Wert der Vergänglichkeit
„Was hast Du in letzter Zeit verabschiedet?“ Mit dieser Frage stiegen wir ein in die Philosopherei, in deren Verlauf wir uns vom Urknall bis eine Million Jahre in die Zukunft bewegten. Wir – elf Menschen mit wunderbar verschiedenen Lebenserfahrungen und Blickwinkeln – versuchten, die Vergänglichkeit und ihren Wert, insbesondere in heutigen, digitalen Zeiten, zu greifen zu bekommen.
Doch bevor es um das Auflösen, Vergessen oder Loslassen ging, widmeten wir uns dem, was ist:
Das Jetzt.
Da ist der besondere Moment, den wir – jetzt – erleben und den wir verewigen und dokumentieren wollen. Und dann ist da der Moment, den wir – jetzt – erleben und in dem wir uns z.B. anhand von Fotos an etwas aus der Vergangenheit erinnern.
Immer geht es um das gute Gefühl im jetzigen Moment. Ein Gast erzählte, wie ihm die Kamera in der Hand dazu verhelfe, Umgebungen und Situationen bewusster, weil mit wacherem Blick zu erleben. Ein Zustand, den er sehr genieße. Andere erzählten, wie schön es sei, z.B. über einen Duft an vergangene Tage, vielleicht einen Ort aus der Kindheit, erinnert zu werden.
Das gute Gefühl ist jetzt. Doch es kann kippen, wenn unser Verhalten zwanghaft wird:
Aus Angst vor dem Vergessen werden ständig Fotos gemacht – und die Welt reduziert sich auf das kleine Display unseres Smartphones. Oder wir leben nur noch in der Rückschau und vergessen darüber, dass auch jetzt gelebt werden will.
Der Zweck der Frucht ist, gegessen zu werden.
Der Kern aber wird weitergetragen. – Vergänglichkeit schafft Raum für Neues. Sie ist das Ausatmen, bevor wir wieder neue Luft einatmen können. Allzu oft sind wir in unserer Gesellschaft mit dem Neubeginn beschäftigt (neue Ideen, Projekte, Produkte, und so fort), aber das Ende denken wir nur selten mit. Fatal, denn so müllen wir uns im wahrsten Sinne des Wortes zu. Wir sind Meister im Gestalten und Schaffen, streben nach Kontrolle, Macht und Wachstum… Was kann uns also dazu ermutigen, loszulassen?
Es braucht den Gegenpol zu Kontroll- und Machtstreben: Vertrauen. Achtsamkeit. In unserer Diskussion kamen noch weitere dieser Begriffe auf (Hingabe, Geduld, Gelassenheit…). Jeder einzelne hat es in sich! – Frage an Dich, liebe Leserin, lieber Leser: Wie bist Du, wie verhältst Du Dich, wenn Du Vertrauen spürst? …wenn Du achtsam bist? Und wie bestärkst Du Dich dabei?
Das Loslassen, das Vergessen, das Vergängliche will ausgehalten werden. Ob ein Mensch stirbt, eine Arbeit zu Ende geht, ein Abschied naht – Trauer- und Abschiedsrituale schenken uns Halt. Der Kern, so ist vielleicht die Hoffnung, bleibt und lebt fort…
Im Nu vergangen
Manche Kunstwerke scheinen für die Ewigkeit gemacht, manch andere für wenige Minuten. Performance-Kunst zeigt uns, dass sie trotz ihrer Kurzlebigkeit eine langfristige Wirkung haben kann. Königin dieser Kunstrichtung ist Marina Abramović. Eine ihrer eindrücklichen Performances fand im Jahr 2010 im New Yorker MoMa statt: Zweieinhalb Monate lang lud sie Menschen dazu ein, ihr gegenüber Platz zu nehmen für Minuten des stillen Augenkontakts. Wahrhaft gesehen zu werden, angesehen, wahrgenommen, in Verbundenheit zu sein – all das ließ die Emotionen der Besucherinnen und Besucher aufwallen. Tief berührt verließen die Gäste den Stuhl.
Letztlich, so vielleicht das Fazit unserer Diskussion, geht es bei der Vergänglichkeit nicht darum aufzugeben, sondern ganz da zu sein. Jetzt. In der „Kulturzeit“ von 3sat wurde der Theaterregisseur Christopher Rüping interviewt. Sein Statement – eine Ode an …
„Ich mag beim Theater das Unfertige, Flüchtige, dass es immer nicht so ganz klappt, und wenn es einmal richtig klappt, ist es schon wieder sofort weg. Während ich beim Film das Gefühl habe, man jagt dem perfekten Moment hinterher – und dann hat man ihn, und dann ist er immer da, wie ein Grabstein auf der eigenen Existenz. Theater ist flüchtiger wie das Leben. Und Film endgültig wie der Tod. Und wenn ich mich entscheiden soll, entscheide ich mich für das Leben.“
3sat, Kulturzeit, 01.06.2022
Inspiration & Quellen:
Pro Bewahren
- Memory of Mankind, Zeitzeugenberichte aus unserer Zeit werden für 1 Mio. Jahre verwahrt, Website des Projekts
- „Digitale Vergänglichkeit: ‚Das vergessene Jahrhundert'“, Futurezone GmbH, 14.06.20
- „Comeback nach 40 Jahren: ABBA sind zurück“, Virtual-Reality-Projekt „Abba Voyage“, Brisant, DasErste, 03.09.21
- Farvel – Ein virtueller 3D-Erinnerungsraum, Website
Pro Vergänglichkeit
- „Warum wir neue Abschiedsrituale brauchen?“, Interview mit Philosophin Ina Schmidt, Deutschlandfunk, 29.12.19
- „Über die Vergänglichkeit – Eine Philosophie des Abschieds“, Buch von Ina Schmidt
- „The End – Das Buch vom Tod“, Buch von Eric Wrede
- „Das Ende“, Podcast von Ilan Siebert, Linnea Riensberg & Robert Stulle
- „Kintsugi – Ein Prozess des Loslassens“, Finde Zukunft, Blogbeitrag von Motoki Tonn, 19.06.22
- „Kintsugi – Der Prozess des Sterbens“, Finde Zukunft, Blogbeitrag von Motoki Tonn, 26.06.22
(Performance-)Kunst
- Kulturzeit, Interview mit Christopher Rüping, 3sat, 01.06.22 (leider ist die Sendung nicht mehr online)
- „6 Famous Marina Abramović Performances That Showcase Her Incredible Strength“, My Modern Met, 12.01.21
- „Der Sandmann von San Francisco – Strandkünstler Andres Amador“, Spiegel, 21.05.14
- Andres Amador Arts, Website des Strandkünstlers
- Burning Man Project, Website