05.12.2017

Chaos vs. Ritual

Zwei Fremde begegnen sich bei der Philosopherei und begrüßen sich … aber wie?!?

Je nach Kulturkreis wissen wir gleich Bescheid. Wir berühren Nasenspitzen, verbeugen uns voreinander, wir umarmen uns, schütteln Hände oder hauchen Küsschen entlang der Wangen. Bei der gestrigen Philosopherei wurde die Norm gleich zu Beginn durchbrochen. Eine Umarmung zwischen Fremden? Irritation! Mit Lachen ging sie los, die Diskussion über Rituale.


Rituale helfen uns, das Zusammenleben leichter zu machen. Wir sparen Zeit und Energie und ersparen uns Verunsicherung. Außerdem schaffen sie ein Gefühl der Verbundenheit und schenken uns Halt und Sicherheit in einer Welt der Krisen. Wenn Kinder mit Ritualen aufwachsen – die Gute-Nacht-Geschichte, der „Piep-piep-piep“-Spruch vor dem Essen, die Zeremonie rund ums Zähneputzen –, dann entwickeln sie Stärke. Denn durch die Wiederholung kennen sie sich aus. Sie erlangen Selbstvertrauen, das ihnen hilft, mit Neuem umzugehen.

Und wir Erwachsenen, brauchen wir Rituale?

Die Geburtstagstorte mit Kerzen zum Auspusten, die Abifeier, der Einstand im neuen Job, die Gesänge im Fußballstadion, Hochzeitsfeiern, Begräbnisse… Dabei geht es nicht nur um ein „subjektives Schematisieren von Handlungsabläufen“. Es geht um mehr. Wir sind Teil von etwas, von einem großen Ganzen, einem geteilten Wertekosmos. „Transzendenz“, der Begriff fiel in diesem Zusammenhang. Wir durchbrechen unsere Alltagsroutine und erleben jenseits davon einen höheren, gemeinsamen Sinn.

Kulturhistorisch standen Rituale häufig im religiösen Kontext. Heute liegt der Sinn nicht zwingend im Glauben, sondern manchmal in der Sehnsucht nach Ästhetik (die hübsche Hochzeit in der Kirche), in dem Streben nach Zugehörigkeit (beim Fußball), in der Bewältigung von Trauer (Struktur, die uns hilft, mit dem Verlust klar zu kommen) oder in der Demonstration und Ausübung von Macht (durch das Familienoberhaupt, die Kirche oder politische Zeremonien).

Wie viel Freiheit verträgt ein Ritual?

Sind wir frei, Rituale zu brechen? Können wir sie ändern? Wenn zwei Familien durch eine Hochzeit miteinander verbunden werden, wenn jemand für Jahre ins Ausland geht oder Geflohene in neuer Heimat Fuß fassen, verbinden sich unsere Bräuche zu neuen? Wie offen sind wir und unsere Rituale?

Es geht um Haltung. Demut und Hingabe. Gleichzeitig reiben wir uns an den Traditionen, die uns zu starr vorkommen. Wir entwickeln in der Auseinandersetzung mit Ritualen unsere Persönlichkeit – oder formen Rituale durch die Art, wie wir sind. Am schönsten ist es, wenn wir lachen können, selbst wenn wir sie verpatzen. Und wenn wir Außenstehende einladen teilzunehmen.

Ich lade auch 2018 wieder ein zur Philosopherei. Bereits 17x sind Menschen in diesem Rahmen auf die Suche gegangen nach gegenseitiger Inspiration, haben zu Beginn die Hände geschüttelt und sich manches Mal zum Abschied umarmt, haben dazwischen Streichhölzer und Gedanken entzündet, Kontakte geknüpft und mit Lachen Standpunkte vertreten oder hinterfragt. Ein Ritual?


 

„Das Schöne an Ritualen ist, dass man nicht an sie glauben muss. Man muss sie einfach nur machen.“
(Axel Michaels)

 


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