19.12.2018

Oh Gnade!

These: All das, worauf wir Menschen uns verständigt haben als gemeinsame, gesellschaftliche Basis – zum Beispiel bestimmte Werte, die Idee, was gerecht sei und was nicht, selbst unser Glaube (an Gott, an Geld, an was auch immer) … – all das ist von Menschen erdacht und konstruiert.

Auch Gnade könnte so ein Gedankenkonzept sein, das unser Dasein in die Hände legt von etwas größerem, höherem und uns damit Halt gibt.

Aber genau hier liegt vielleicht der Grund dafür, warum der Begriff der Gnade heutzutage fast verschwunden ist. Wie jedes Konzept so kann auch dieses verworfen werden. Und wir tun es: Wir wollen unser Leben nicht in den Händen von anderen (oder etwas anderem) wissen. Wir übernehmen selbst die Verantwortung. Ich arbeite, optimiere, perfektioniere, agiere, strebe und hab’s selbst in der Hand! Alles steht in Resonanz zueinander. Auf etwas zu hoffen, das da außerhalb meines Wirkungskreises steht, scheint nicht zielführend. Ich bin kein Opfer…

Woran glaubst Du?

Warum bist genau Du auf die Welt gekommen?
Warum verzeiht Dir jemand etwas, das unrecht war?

Gnade vor Recht, so heißt es. War das Gnade, die Angela Merkel 2015 zeigte? Ist Gnade gekoppelt an Selbstlosigkeit, oder dürfen auch eigene oder politische Interessen mitschwingen?

Wird unsere Welt gnadenloser?

Wer definiert eigentlich, was gut und schlecht, Recht und Unrecht ist? Wer bestraft wen?
Würden klarere Regeln und mehr Gerechtigkeit dazu beitragen, dass wir weniger Unrecht begehen? Vergebung und Gnade wären somit obsolet. Ich gebe zu, mir widerstrebt dieser Gedanke, werden wir doch nie alles regeln können; und das Streben danach scheint mir falsch. Für mich hätte dies etwas mechanisches, das unser Leben einnorden will. Eine gnadenlose Taktung und Gleichmachung (okay ja, etwas dramatisch formuliert…).

Menschsein ist für mich „trial and error“, Versuch und Irrtum, die liebgewonnenen Makel, die Einzigartigkeit, mit der wir eben auch andere verletzen können. Ich bin überzeugt: Wir brauchen neben der Selbstverantwortung auch die Güte, Barmherzigkeit und vielleicht auch (das Gefühl von) Gnade. Die Gewissheit, dass wir trotz unserer großartigen Fehlbarkeit Teil von etwas größerem bleiben dürfen.

Hat Gnade für Euch heute noch eine Relevanz?

Voller Dankbarkeit

…blicke ich auf diese Philosopherei zurück. Es war die letzte in diesem Jahr und in meinem Wohnzimmer in der Robertstraße. Ich ziehe um, bleibe in Hannover und freue mich auf die nächsten gemeinsamen Diskussionen mit Ihnen und Euch in anderen Räumen. Danke an Dich, liebe Anette Walz, wunderbare Künstlerin und Gesprächspartnerin, für das gemeinsame Gestalten und Moderieren der Philosopherei! Und danke an zehn tolle Gäste – dieses Mal zehn starke Frauen –, die den Abend mit ihren Sichtweisen so bereichert haben. Ein Geschenk!


„Gottes Gnade ist seine Mitarbeit an unserem Willen.“ – Hermann Oeser
„Ich brauche keine Gnade, ich will Gerechtigkeit.“ – Gotthold Ephraim Lessing
„Wer voller Unschuld ist, will nichts von Gnade wissen.“ – Johann Christoph Gottsched