29.01.2023

Das Stille-Experiment

Bereit für ein Experiment?

Was passiert, wenn wir nicht miteinander sprechen? Wenn sich Fremde zu einem Abendessen treffen und dabei nicht mit Worten kommunizieren? Was bleibt in unserer Sprachlosigkeit? Wie wirken wir? Was nehmen wir wahr? Am ersten Abend dieses Experiments erlebten wir genau das: Begegnung ohne Worte. Am zweiten Abend wurde munter reflektiert.

„Stille ist Deine wahre Natur. Was ist Stille?“

Eckart Tolle

Psssst

Ich fand es spannend zu erleben, wie sich Abläufe, die eigentlich mit Worten einhergehen, nun andere Wege bahnten. Um beispielsweise die Freude über die Ankunft der mir vertrauten Gäste auszudrücken, umarmte ich sie innig. Das „Herzlich Willkommen“ war nicht hör-, dafür spürbar.

Wir waren einander zugewandt und achtsam. Da wurde – meist schon vor dem Fingerzeig – wahrgenommen, wenn Wein nachgeschenkt oder das Brot herübergereicht werden sollte. Mal kicherten wir miteinander, dann wiederum gab sich jeder seinen eigenen Gedanken hin. An diesem ersten Abend herrschte eine wohlwollende, angenehme Ruhe – nicht anonym, sondern selbst in Momenten, in denen jeder ganz bei sich war, fühlten wir uns im Verbund mit den anderen. In Resonanz. Im Vertrauen.

Am zweiten Abend teilten wir unsere Erfahrungen. Von der großen Überraschung, wie angenehm es gewesen sei, wurde da erzählt. Kontemplativ, meditativ, beruhigend. Und von weiteren positiven Effekten: Einer traf eine wichtige Entscheidung, die er gleich am nächsten Tag umsetzte; eine andere übte gedanklich italienische Vokabeln für einen Test; ein weiterer Gast genoss, sich fürs Zuspätkommen nicht entschuldigen zu müssen.

Stiller Effekt

Der norwegische Abenteurer Erling Kagge beschreibt in seinem Buch „Silence – In the Age of Noise“ seine 50-tägige Expedition zum Südpol. Ganz allein. Ohne jegliches Gerät zur Kommunikation mit anderen. 50 Tage lang nur er und das Weiß. „Visuelle Stille“ nannte er es. Doch nach einiger Zeit entdeckte er Nuancen – Formatierungen aus Eis und Schnee, Facetten von Weiß… Die Kunst ist, und das wurde auch in unserem Experiment spürbar: die vorgefertigten Bilder in unserem Kopf zu überwinden und richtig hinzugucken. Richtig, wahrhaftig hinzuschauen und wahrzunehmen – das erfordert Durchhaltekraft (dranbleiben! nicht ausweichen!) und schenkt … ja, was genau? Erkenntnis, Verständnis, Demut aufgrund der wundersamen Fülle, die das Leben birgt.

Stille kann zäh und schmerzhaft sein! Nicht nur für einen selber, sondern auch für die Menschen, die uns umgeben. Sie kann ausgrenzen: wenn das Kind oder der Partner ignoriert und Liebe entzogen wird. Wenn Menschen, die taub sind oder die, die keine Stimme haben in unserer Gesellschaft, nicht eingebunden werden. Wenn wir schweigen, wo wir eigentlich unsere Stimme im Sinne der Gerechtigkeit erheben müssten. Es ist also immer eine Abwägung und feines Tarieren, eine Frage des Kontextes. Und auch hierfür, so wurde deutlich, hilft es, innezuhalten.

Die Stille, die gut tut (die uns aufzeigt, was gut ist), ist ein fragiles Gut. Wir sind umringt von Lärm und Impulsen; wir sind immer und überall erreichbar und auf Empfang. Uns die Legitimation zu geben, unsere Frequenz zu ändern auf „inneren Empfang“, das scheint die große Aufgabe. Für meine Gäste war das gemeinsame Schweigen eine Wohltat, und sie baten lautstark um Fortsetzung …

„Die Stille stellt keine Fragen, aber sie kann uns auf alles eine Antwort geben.“

Ernst Ferstl


Inspiration & Quellen:

Mehr Dialog über die Stille und andere Themen finden Sie auf der Seite der Philosopherei.